Mit der Zeit gehen
Sprache ist wunderschön, das ist unumstritten. Manch einer versteht es mit ihr kunstvoll umzugehen, viele andere weniger, aber dennoch ist sie ein prachtvolles, großes Kulturgut. Wahrscheinlich das Beste, was die Menschheit je erdacht hat. Der folgende Text handelt von Sprache, genauer gesagt von Zitaten und deren Bedeutungsvielfalt.
Neulich tranken meine Freundin und ich ein Glas Wein, wobei wir auf Zitate zu sprechen kamen und unter anderem über eines, was wir beide auf michaelziege.de gesehen hatten: Wer nicht mit der Zeit geht, der geht mit der Zeit. – So steht es geschrieben, der Autor ist unbekannt. Gehört hatte ich es zuvor schon einmal von meinem Freund Robert. Wir saßen seinerzeit gemütlich beisammen, in irgendeinem Lokal und ärgerten uns über die wenig zuvorkommende Art der Bedienung und die Unmöglichkeit bargeldlos zu zahlen. Da murmelte Robert das eben erwähnte Zitat und ich konnte ihm nur beipflichten und habe es abgespeichert. Seit dem verstehe ich es als Mahnung an all diejenigen, die stets erklären wie schön doch alles früher gewesen sei, und wie kompliziert doch alles heute ist. Ebenfalls als Hinweis, dass man sich Neuerungen nicht immer entgegenstellen sollte, sondern neugierig ist und die Dinge ausprobiert. Denn Menschen die derlei sagen und denken, sind rückschrittlich und wenig sozial, sie interessieren sich nicht für ihre Umgebung und Mitmenschen und die Komplexität des Lebens. Schließlich werden sie die Quittung dafür erhalten, ihre Lokale werden nicht mehr gut besucht sein, bis sie schließlich ganz dahin siechen.
Meine Freundin jedoch interpretierte das Zitat ganz anders: Wer NICHT mit der Zeit geht, DER geht mit der Zeit – liegt also im Trend und macht alles richtig. Soll also heißen, dass man nicht jedem neuen Zeug hinterherrennen muss, nicht jede Modesaison mitgemacht werden muss. Leben heißt, sich alles anzusehen und dann für sich zu entscheiden, was man daraus macht. Eine für mich ebenfalls absolut nachvollziehbare Interpretation des Gesagten.
Da mir der tatsächliche Autor dieses Zitat unbekannt ist, werde ich wohl nie erfahren, wie er es gemeint hat, ich erfreue mich aber daran, dass Sprache mächtig genug ist, zwei Menschen mit ein und demselben Satz in zwei völlig verschiedene Richtungen denken zu lassen. Wollen wir nur hoffen, dass diese Macht nicht mißbraucht wird.
Mit der Zeit gehen – das wollen auch viele Journalisten unterschiedlichster Druckerzeugnisse und daher schreiben sie mittlerweile schon so, wie sie offenbar sprechen, nämlich furchtbaren Mist. Da wird teilweise auf Sprachlogik und Satzbau verzichtet und das ist natürlich schade und anstrengend zu lesen. Daher möchte ich an dieser Stelle zurück zu den Zitaten kommen und eines von Mark Twain ins Gedächtnis rufen:
Der Unterschied zwischen dem richtigen Wort und einem beinahe richtigen Wort ist derselbe wie der zwischen dem Blitz und einem Glühwürmchen.